Der Mittelalter-Paragraf

Vor einem Jahr wurde der deutsche Student Josef S. bei den Randalen zum Akademikerball in Wien festgenommen. Morgen findet der Ball wieder statt.

[Erstveröffentlichung: VICE] Am 22. Juli 2014 wurde dem Studenten Josef S. nach einem monatelangen Aufenthalt in Untersuchungshaft in Wien der Prozess gemacht. Der junge Mann aus Jena war nach der Demonstration gegen den Akademikerball der rechtsextremen Burschenschaften im Jänner dieses Jahres verhaftet worden und musste bis zum Prozess in U-Haft bleiben. Josef S. wird zu einer Haftstrafe verurteilt, unter anderem wegen „Landfriedensbruch”.

Zwei Monate später, im September 2014, stehen in Wien rund zwei Dutzend Fans des SK Rapid vor Gericht. Bei einem Freundschaftsspiel gegen den 1. FC Nürnberg kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, nachdem diese in die gemeinsam feiernden Fans aus Wien und Nürnberg gestürmt war. Auch hier vor Gericht das gleiche Bild: Die Fans müssen sich wegen Landfriedensbruch verantworten.

Der Paragraf, der sich sowohl gegen linke Demonstranten als auch gegen feiernde Fußballfans anwenden lässt, ist, wie der Name Landfriedensbruch schon vermuten lässt, eigentlich ein wenig altertümlich. Die Idee stammt aus dem Mittelalter. Nach sozialen Aufständen wurde damals die revolutionäre Bevölkerung angeklagt, weil sie den Frieden im Land—also das Recht der Adligen und des Königs—gebrochen hatte.

Später wurde dieser Straftatbestand eigentlich kaum noch eingesetzt. Von 1974 bis 2008 hatte es gerade einmal 24 Verurteilungen wegen Landfriedensbruch gegeben. Das änderte sich radikal mit der Europameisterschaft 2008, die in Österreich ausgetragen wurde. Die Justiz hatte im Zuge der EM ’08 den schon fast vergessenen Paragrafen wiederentdeckt und benutzt ihn seither exzessiv gegen soziale Protestbewegungen und Fußballfans. Beinahe 100 Verurteilungen wurden in den letzten sechs Jahren gezählt.

Für die Staatsanwaltschaft und die Gerichte ist dieser Paragraf dabei äußerst praktisch. Denn, und das macht ihn so besonders, für eine Verurteilung ist eine aktive Tathandlung nicht notwendig. Wörtlich heißt es im § 274 des Strafrechtsgesetzbuchs: „Wer wissentlich an einer Zusammenrottung einer Menschenmenge teilnimmt, die darauf abzielt, dass unter ihrem Einfluss ein Mord, ein Totschlag, eine Körperverletzung oder eine schwere Sachbeschädigung begangen werde, ist, wenn es zu einer solchen Gewalttat gekommen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen.” Im Klartext: Für eine Verurteilung zu einer maximal zweijährigen Haftstrafe reicht es bereits, sich im Nahebereich einer strafbaren Handlung aufgehalten zu haben. Es gilt der olympische Gedanke: Dabei sein ist alles.

Wie exzessiv die Justiz diesen Paragrafen anwendet und welche Folgen das für Menschen haben kann, zeigten die Proteste gegen den Akademikerball im Jänner 2014. Ein Zivilpolizist war der Meinung, den deutschen Studenten Josef S. in einer Menge erkannt zu haben, in der es zu einer Konfrontation mit der Polizei gekommen war und später auch einige Sachbeschädigungen entstanden sind. Als Josef S. gegen Ende der Demonstration von einem Greiftrupp der Polizei verhaftet wurde, kam er danach sofort in Untersuchungshaft, wo er ein halbes Jahr auf sein Urteil warten musste. Der Vorwurf der Sachbeschädigung oder sogar einer Körperverletzung hätte bei dem unbescholtenen Studenten aus Jena für eine U-Haft kaum ausgereicht. Doch da auf Landfriedensbruch sehr hohe Strafen stehen, rechtfertigte die österreichische Justiz so die monatelange Inhaftierung.

Im Prozess gegen Josef S. stellte sich die Anklage als äußerst schwach heraus. Staatsanwalt Kronawetter polemisierte zwar und verstieg sich sogar zu der absurden Behauptung, dass Wien nach den Protesten gegen den Akademikerball ausgesehen habe wie ein Kriegsgebiet, doch faktisch blieb außer der teilweise widersprüchlichen Aussage eines Zivilpolizisten wenig übrig.

Bei der Verurteilung wurde schließlich eine für die Justiz elegante Lösung gewählt: Josef S. wurde zwar schuldig gesprochen, jedoch zu einer teilweise bedingten Haftstrafe. Den unbedingten Teil hatte er bereits mit der U-Haft abgesessen und so konnte er den Gerichtssaal als freier Mann verlassen.

Finanziell bedeuten solche Anklagen für die Betroffenen jedoch eine existenzielle Gefährdung. Irma S., die Schwester von Josef S., die die Unterstützungsarbeit für ihn koordiniert hat, sagt: „Wir haben eine Überschlagsrechnung gemacht, was die Kosten für das erste Verfahren und die Berufung betrifft. Insgesamt sind es circa 50.000 Euro. Die Prozesskosten sind da noch gar nicht mitgerechnet.”

Wie viele weitere Verfahren im Zuge der Proteste gegen den Akademikerball noch zu erwarten sind, ist derzeit unklar. Einige Prozesse haben bereits stattgefunden, die Betroffenen wollten jedoch nicht, dass darüber öffentlich berichtet wird.

Bild: Michael Bonvalot

Insgesamt spricht die Polizei allein rund um den Akademikerball von Anzeigen wegen Landfriedensbruch gegen ungefähr 500 Personen. An der Demonstration hatten insgesamt 8.000 Menschen teilgenommen. Um auf diese hohe Zahl an Anzeigen zu kommen, müssen wohl ganze Demonstrationsteile unter Generalverdacht gestellt worden sein. Käthe Lichtner von der „Offensive gegen Rechts” (OGR), die die meisten antifaschistischen Mobilisierungen in diesem Jahr organisiert hat, sagt: „Es ist doch offensichtlich, worum es hier geht. Engagierte Menschen sollen mundtot gemacht werden, indem allein die Teilnahme an politischen Protesten mit enorm hohen Haftstrafen bedroht wird.”

Auch Fußballfans sind vom Paragrafen Landfriedensbruch betroffen. Vor allem Fans des SK Rapid sind ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten. Bereits zweimal wurde hier der Paragraf 274 gegen größere Gruppen von Fans angewendet. Beim ersten Mal hatten sich Fans von Rapid im Wiener Westbahnhof versammelt, um dort von einem Auswärtsspiel heimkehrende Anhänger der Wiener Austria zu attackieren. Wahrscheinlich wäre das der einzige Fall der letzten Zeit gewesen, bei dem die Anwendung des Landfriedensbruchs, zumindest nach dem Wortlaut des Gesetzes, nachvollziehbar gewesen wäre. Doch auch hier stellt sich die berechtigte Frage, inwiefern es legitim ist, Menschen ausschließlich deshalb zu verurteilen, weil sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort waren, ohne selbst aktive Handlungen gesetzt zu haben.

Noch weit klarer wurde die Problematik beim zweiten Verfahren gegen Fans von Rapid. Am 7. September 2013 reiste der 1. FC Nürnberg mit seinen Fans an, die mit „den Grünen” aus der Wiener Vorstadt Hütteldorf eine traditionell sehr enge Freundschaft pflegen. Nach dem Spiel entwickelte sich aus einem Streich eine Auseinandersetzung mit der Polizei. Ein Fan hatte ein Kennzeichen von einem Polizeiauto abmontiert. Daraufhin versuchten Spezialeinheiten der Polizei, den Täter zu verhaften und gingen in Folge äußerst brutal gegen die Fußballfans vor. Sogar Polizeisprecher Hahslinger musste später zugeben, dass der Einsatz nicht gut abgelaufen war. Insgesamt 46 Fans wurden angezeigt, teilweise ausschließlich wegen Landfriedensbruch.

Wie absurd dieser Paragraf ist, wurde dann im Prozess selbst klar, bei dem 29 Fans auf der Anklagebank Platz nehmen mussten. Ein Mann hatte sich als Entlastungszeuge zur Verfügung gestellt und wurde prompt selbst angeklagt. Die Begründung: Offenbar wäre er ja bei den Vorfällen präsent gewesen, sonst könne er ja nicht dazu aussagen—und somit würde auch für ihn der Landfriedensbruch zur Anwendung kommen. Auch die Ausführungen der Richterin in ihrer Urteilsverkündung lassen Zweifel aufkommen. So führte sie unter anderem „die Mimik” oder „gewaltbereite Bewegungen in einer Menge” als Gründe für Verurteilungen an. Käthe Lichtner von der OGR sieht hier ein Muster: „Justiz und Politik haben in den letzten Jahren immer neue Paragrafen hervorgezaubert, um Personengruppen zu verfolgen, die ihnen nicht in den Kram passen.” Sie nennt auch exemplarische Beispiele: „Gegen Bettler werden Sondergesetze erlassen, Tierschützer wurden mit dem sogenannten Mafia-Paragrafen verfolgt und nun wird verstärkt auf den Landfriedensbruch zurückgegriffen, um so Personen verurteilen zu können, auch wenn diese selbst keine strafbaren Handlungen gesetzt haben.”

Bild: Michael Bonvalot

Vor allem seit dem Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2007 rüsten Justiz und Sicherheitsapparate in vielen Ländern massiv auf. Die Ausrüstung der Polizei wird verbessert und militarisiert. Das Militär übt die Niederschlagung von sozialen Unruhen und die Aufstandsbekämpfung. Und schließlich wird auch an der juristischen Front nachgebessert. Die rechtlichen Möglichkeiten zur Überwachung nehmen immer weiter zu. Mit der anstehenden Novelle des sogenannten „Verhetzungsparagrafen” wird das Recht auf freie Meinungsäußerung beschnitten. Und auch die zunehmende Anwendung des veralteten Paragrafen für Landfriedensbruch kann in diesem Zusammenhang problematisch gesehen werden.

Der Landfriedensbruch erfüllt dabei laut Lichtner vor allem im Hinblick auf politische Demonstrationen eine klare Funktion. Sie sieht in der Anwendung eine eindeutige Einschränkung des Demonstrationsrechts: „Wenn es künftig für eine Verurteilung bereits ausreicht, an einer Demo teilzunehmen, bei der es zu strafbaren Handlungen kommt, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet.”

Sogar das Oberlandesgericht Wien sah sich bereits zu einer Warnung veranlasst, da die Staatsanwaltschaft immer öfter wegen Landfriedensbruch anklagt. Das OLG erklärte, dass die bloße Teilnahme an einer Demonstration nicht ausreichen würde, um den Landfriedensbruch-Paragrafen anzuwenden: „Die Notwendigkeit einer solchen Abgrenzung wird schon daran deutlich, dass andernfalls auch die in der Menschenmenge anwesenden Ordner oder Polizeibeamten zwangsläufig tatbestandsmäßig handeln müssten.”

Justizminister Brandstetter hat mittlerweile übrigens erklärt, den Paragrafen reformieren zu wollen. Gänzlich abschaffen möchte er ihn allerdings nicht. Vielleicht ist die Regierung der Ansicht, dass ein Paragraf, der so effizient gegen Protestbewegungen eingesetzt werden kann, doch noch nützlich sein könnte.

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