EU und NATO zwingen Flüchtlinge auf tödliche Routen

Der Friedhof der Flüchtlinge auf Lesbos. Bild: Michael Bonvalot
[ND] 2016 stieg die Zahl ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer dramatisch an, obwohl weniger die Flucht übers Meer wagten

Erstveröffentlichung: Neues Deutschland, 10.01.2017

Mindestens 5022 geflüchtete Menschen sind im vergangenen Jahr im Mittelmeer ertrunken oder werden vermisst. Das ist die Bilanz des UN Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), das auf täglicher Basis die Flüchtlingszahlen an den Außengrenzen der EU erfasst. Die tatsächlichen Zahlen könnten noch weit höher liegen, weil in vielen Fällen niemand überlebt, um von einem Unglück auf hoher See zu berichten.

Diese 5022 Opfer bedeuten nochmals einen dramatischen Anstieg gegenüber 2015, als das UNHCR von mindestens 3771 toten Flüchtlingen ausging. Die steigenden Zahlen sind besonders bemerkenswert, weil 2016 insgesamt deutlich weniger Menschen über das Mittelmeer in die EU geflüchtet sind als im Jahr davor.

Waren 2015 laut UNHCR noch insgesamt rund eine Million Menschen über das Mittelmeer gekommen, sind es im vergangenen Jahr nur noch rund 360.000 gewesen. Besonders deutlich ist der Rückgang auf der Route von der Türkei nach Griechenland, die insbesondere von Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan benutzt wird. Über diesen Weg waren 2015 laut UNHCR noch rund 800.000 Personen in die EU geflüchtet, 2016 waren es nur noch 170.000.

Kleidung treibt in der Bucht von Dikili an der türkischen Ägäis-Küste. Im Hintergrund die Insel Lesbos. Bild: Michael Bonvalot

Kleidung treibt in der Bucht von Dikili an der türkischen Ägäis-Küste. Im Hintergrund die Insel Lesbos. Bild: Michael Bonvalot

Ein wesentlicher Grund für die steigenden Opferzahlen könnte die Ausweitung des Militäreinsatzes von EU und NATO im Mittelmeer-Raum sein. Seit Oktober 2015 geht die EU im Rahmen der »Operation Sophia« vor den Küsten von Tunesien und Libyen gegen Flüchtlinge vor. Die deutsche Marine ist mit Schiffen an dieser Operation beteiligt. Seit Februar 2016 patrouilliert ein Kriegsverband der NATO unter deutscher Führung auch zwischen der Türkei und Griechenland.

Jüngst wurde der Einsatz von NATO-Truppen im Kampf gegen Flüchtlinge nochmals ausgeweitet. Im Rahmen der Operation »Sea Guardian« sollen die Seerouten im Mittelmeer überwacht werden. Insgesamt sollen bis zu 650 deutsche Soldaten, mehrere Schiffe sowie die deutschen Besatzungen von Awacs-Aufklärungsflugzeuge zum Einsatz kommen. Das hat der Bundestag im September 2016 mit 441 Ja-Stimmen und 117 Nein-Stimmen sowie einer Enthaltung beschlossen.

Gleichzeitig machen die Zahlen des UNHCR deutlich, warum Menschen die lebensgefährliche Reise über das Meer auf sich nehmen. Ein großer Teil der Flüchtlinge stammt aus Kriegs- und Konfliktgebieten. Fast ein Viertel aller 2016 vom UNHCR für den Mittelmeerraum erfassten geflüchteten Menschen kam aus Syrien, weitere 20 Prozent aus Afghanistan und Irak. Noch eindeutiger sind die Zahlen für die Ägäis: sogar 86 Prozent aller Flüchtlinge, die in Griechenland registriert wurden, stammen hier allein aus diesen drei Kriegsgebieten.

Deutsche Küstenwache auf Samos. Bild: Michael Bonvalot

Deutsche Küstenwache auf Samos. Bild: Michael Bonvalot

Gleichzeitig stecken immer mehr Menschen in Griechenland fest, nachdem die EU-Staaten die sogenannte Balkanroute weitgehend dichtgemacht haben. Zahlreiche Flüchtlingslager sind überbelegt, es gibt laufend Kritik an der Versorgung. Aktuell ist vor allem der massive Wintereinbruch ein lebensbedrohendes Problem. Viele Flüchtlinge leben in Zelten und können sich nicht vor Schnee und Kälte schützen. In Bulgarien sind bereits mindestens drei Flüchtlinge erfroren.

Eine substantielle Verbesserung der Lage den Herkunftsländern der Flüchtlinge ist nicht absehbar, dementsprechend ist auch für die Zukunft von weiteren Fluchtbewegungen auszugehen. Die Überwachung durch EU und NATO führt allerdings zu einem Ausweichen der Flüchtlingsboote auf immer gefährlichere Routen – weiter steigende Opferzahlen werden wohl die Folge sein.

 

Video: Kleidung treibt in der Bucht von Dikili:

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