Der Verwaltungsgerichtshof sagt, dass Ungarn für AsylwerberInnen nicht mehr sicher ist

Das Flüchtlingslager Röszke in Ungarn. Bild: Michael Bonvalot

Die gesetzliche Vermutung, dass Ungarn für Asylwerber sicher sei, besteht nicht mehr.

[Erstveröffentlichung: Vice] Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hat im Fall einer afghanischen Staatsbürgerin und ihrer Kinder entschieden, dass eine Abschiebung nach Ungarn nicht zulässig sei. Die Begründung lautet, dass „die gesetzliche Vermutung, Ungarn sei für Asylwerber sicher, derzeit nicht mehr besteht.“ Mit diesem Urteil sind Abschiebungen nach Ungarn de facto ausgesetzt.

Die afghanische Familie, ein Ehepaar mit Kindern, hatte im Oktober 2014 in Österreich Antrag auf Asyl gestellt. Im März 2015 wurde dieser Antrag vom Bundesamt für Asyl (BFA) als unzulässig zurückgewiesen, da durch das „Dubliner Abkommen“ Ungarn für das Asylverfahren zuständig sei. Dieses Abkommen besagt, dass grundsätzlich der erste Staat der EU, den eine Person betreten hat, für das Verfahren zuständig ist. Die Familie war via Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Ungarn geflüchtet. In Ungarn wurde sie von der Polizei registriert, reiste aber weiter nach Österreich.

Es drohte nun also die Abschiebung nach Ungarn, wobei Ungarn Flüchtlinge in den seltensten Fällen anerkennt, die Quote liegt gerade einmal bei neun Prozent. Die Familie berief dagegen beim Verwaltungsgerichtshof (VwGH), also dem obersten Gericht in Österreich für solche Fragen. Der VwGH hat nun in einem Erkenntnis, das am 14.09. zugestellt wurde, für die Familie entschieden, somit wird das künftige Asylverfahren in Österreich durchgeführt und nicht in Ungarn. (Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass der Asylantrag selbst positiv behandelt wird.)

Dieses Urteil hat weit über den Einzelfall hinaus Brisanz. Der VwGH stellt in seiner Begründung fest, dass Ungarn für Asylwerber nicht sicher sei und kritisiert die vorherigen Gerichte, dass sie das nicht genügend berücksichtigt hätten. Hans Peter Lehofer vom VwGH sagt, dass künftig „gleiche Fälle wohl gleich entschieden würden“. Lehofer weiter: „Wenn sich eine Person künftig zweckmäßig rechtlich wehrt, ist wohl davon auszugehen, dass eine Abschiebung nach Ungarn nicht mehr durchgeführt würde.“ Für ihn sind „Abschiebungen nach Ungarn schwer vorstellbar“, denn zuerst müsste sich „das Gericht vergewissern, dass abgeschobene Personen dort menschenwürdig behandelt werden“.

Damit sind Abschiebungen nach Ungarn aus Österreich nach dem Dublin-Abkommen de facto ausgesetzt. Erste Risse hatte das Dublin-System bereits vor einigen Tagen bekommen, als Deutschland das Dublin-Abkommen für Flüchtlinge aus Syrien ausgesetzt hatte. Doch einerseits handelte es sich hier nun um eine bestimmte Personen-Gruppe, andererseits könnte die deutsche Regierung das jederzeit zurücknehmen. Mit dem Urteil des österreichischen VwGH hingegen werden Rück-Abschiebungen aus Österreich nach Ungarn auf Basis der Dublin-Verordnung generell in Frage gestellt und real unzulässig.

Das Gericht hat dabei die jüngsten Ereignisse und die Situation in den letzten Wochen noch gar nicht berücksichtigt, auch die gesetzlichen Verschärfungen, die am 15.09. in Kraft treten, sind noch nicht Teil des Erkenntnis. Es ist also schwer vorstellbar, dass die gerichtliche Beurteilung sich rasch ändert.

Außerhalb der EU gilt bereits seit Längerem das System sogenannter „Sicherer Drittstaaten“. Das sind Staaten, wo die jeweiligen EU-Staaten behaupte, dass AsylwerberInnen ohne Gefahr abgeschoben werden könnten. Innerhalb der EU hat Österreich bisher nur Griechenland so eingeschätzt, dass dorthin nicht mehr abgeschoben werden darf. Nun steht auch Ungarn auf dieser Liste.

Das Urteil zwingt nun die Regierung zum Handeln. Doch bereits bisher hätte Österreich das Dublin-Abkommen nicht exekutieren müssen. In diesem Abkommen gilt ein „Selbsteintritt“, jedes EU-Land kann also jederzeit sagen, dass ein Asylverfahren freiwillig übernommen wird, obwohl ein anderer Staat–also etwa Ungarn–zuständig wäre. Die österreichische Regierung aber hat in den letzten Tagen Ungarn zwar scharf kritisiert, war aber gleichzeitig nicht bereit, die Dublin-Verordnung einfach auszusetzen, was jederzeit möglich gewesen wäre. Durch das heute zugestellte Urteil allerdings gerät die Regierung unter Zugzwang.

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