Diese Bucht ist ein Symbol für das Sterben im Mittelmeer

[FM4] Diese Bucht in der Türkei ist Symbol für das Sterben im Mittelmeer

Erstveröffentlichung: FM4, 25.05.2017  Eine einsame Bucht, irgendwo im Nirgendwo an der türkischen Mittelmeerküste. Genau gegenüber von uns ist Lesbos, eine griechische Insel und damit die Europäische Union. Alleine hätte ich niemals hierher gefunden. Hassan hat mich hierher geführt, ein lokaler Flüchtlingshelfer.

Hassan heißt eigentlich gar nicht Hassan. Doch er möchte lieber unter dem Radar bleiben. „Es ist ungemütlich geworden in der Türkei in diesen Tagen“, meint er. Es geht steil hinunter zum Wasser, quer durch Haine mit uralten Olivenbäumen. „Diese Bucht ist einer der zentralen Abfahrtsorte für Menschen auf ihrer Flucht über das Meer“, berichtet Hassan. Und tatsächlich: Am gesamten Abhang und in der Bucht sind stumme Zeugen der Flucht zu erkennen.

Kinderkleidung

Überall liegt Kleidung herum. Medikamentenpackungen sind zu sehen. Passhüllen aus dem Irak. Hygieneartikel für Frauen. Dazwischen immer wieder Hinweise auf Schlauchboote, etwa Flickzeug, falls das Boot unterwegs ein Leck bekommt. Sehr viele Gegenstände weisen auf Kinder hin: Gebrauchte Windeln, Schnuller, Kleidung, kleine Schuhe, Rettungswesten in Mini-Ausführung. Zurückgelassen wird offenbar alles, was nicht mehr gebraucht wird, was das Boot schwerer machen könnte.

Und noch etwas fällt auf: Diese Gegenstände sind frisch. Direkt in der Bucht finden wir auch einen großen Karton mit dazugehörigem Verpackungsmaterial. Die Aufschrift deutet auf einen Außenbordmotor hin. Der Karton wirkt ganz neu, er kann bestenfalls seit ein paar Tagen hier direkt am Wasser stehen.

Die Flucht geht weiter

Es ist offensichtlich: Immer noch wagen Menschen die gefährliche Flucht über das Meer. Das bestätigt auch Ali Güray Yalvaçlı von der „İmece İnisiyatifi“ (Initiative Solidarität) aus dem Küstenort Çeşme. „Allein hier versuchen je nach Wetterbedingungen täglich ein bis zwei Boote die Fahrt über das Meer“, schätzt er.

Doch diese Flucht über das Meer ist gefährlich. Lesbos wirkt von der Bucht, in der wir stehen, ganz nah. Die griechische Insel ist nicht einmal 20 Kilometer entfernt. Besonders trügerisch: Genau gegenüber von uns ist der Flughafen der Insel-Hauptstadt Mytilini. In der Nacht ist er hell erleuchtet, wirkt aber aus der Ferne wie eine Hafenpromenade mit Lokalen. Damit lässt er die Distanz noch kürzer erscheinen.

 

Gefährliche Strömungen

Doch der Schein trügt: „Hier gibt es gefährliche Strömungen, der Wellengang kann extrem hoch und potenziell tödlich werden“, erzählt Hassan. Und auch die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Allein im Jahr 2016 waren es laut dem UN-Hochkomissariat für Flüchtlinge (UNHCR) mindestens 5022 Menschen, die an den Außengrenzen der EU ums Leben gekommen sind. Das ist ein dramatischer Anstieg gegenüber den vergangenen Jahren.

Insgesamt sind laut UNHCR seit 2011 mindestens 14.893 Menschen im Mittelmeer gestorben. Bei den 5022 vom UNHCR genannten Toten für 2016 handelt es sich allerdings um eine Mindestzahl. Denn es können nur jene Menschen gezählt werden, deren Tod auch bekannt ist. Wenn aber ein gesamtes Boot kentert, gibt es oft niemanden mehr, der darüber berichten könnte.

Besonders oft wird über angeschwemmte Tote die Region zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln Lesbos, Samos und Chios berichtet, in der wir gerade sind. Einerseits ist hier die Fahrt über das offene Meer kürzer, was auf eine weniger gefährliche Überfahrt hoffen lässt. Andererseits, und damit zusammenhängend, leben sehr viele geflüchtete Menschen hier an der Küstenregion im Umfeld der Millionenmetropole Izmir. Ein Interview mit einer Flüchtlingsaktivisten aus Izmir könnt ihr hier finden.

Massengrab

Und so wird dieser Abschnitt des Mittelmeers immer mehr zum Massengrab. Bei unserem Gespräch berichtet auch Ali Güray Yalvaçlı von der İmece İnisiyatifi: „Erst vor rund zwei Wochen sind auf der griechischen Seite wieder Leichen angespült worden.“ Und die Menschen weichen auf immer gefährlichere Routen aus. Yalvaçlı erklärt den Hintergrund: „Hier patrouillieren griechische und türkische Küstenwache, Schiffe von EU-Frontex und sogar Kriegsschiffe der NATO.“ Auch ich kann in der Bucht ein Kriegsschiff am Horizont erkennen.

Bedrückend

Warum die Menschen flüchten, ergibt sich allein aus ihren Herkunftsländern. Laut dem UNHCR stammten im vergangenen Jahr 86% aller in der Ägäis über das Meer geflüchteten Menschen aus den drei Kriegsgebieten Afghanistan, Irak und Syrien. Wer es geschafft hat, steckt mittlerweile in den völlig überfüllten Lagern an der griechischen Seite fest. Denn die sogenannte Balkanroute wurde auf Druck der westeuropäischen Regierungen geschlossen.

Schließlich wende ich meine Schritte auch direkt zum Wasser. Überall im Wasser treibt Kleidung. Ob es hier zurückgelassen wurde, ob es auf hoher See verloren ging und über Bord geworfen wurde, um das Boot leichter zu machen, ob es die Überreste von Leichen sind – wir wissen es nicht. Es ist ein bedrückender Ort, hier irgendwo im Nirgendwo an der türkischen Küste.

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