„Die Regierung spielt Arme gegen noch Ärmere aus.“

[FM4] Ein Interview mit İdil Gökber, Flüchtlings-Aktivistin in der türkischen Stadt Izmir.

Erstveröffentlichung: FM4, 20.08.2016

Die Situation für Flüchtlinge in der Türkei ist katastrophal. Es gibt zu wenig Lebensmittel, es gibt zu wenige Unterkünfte, es fehlt an medizinischer Versorgung. Nach dem gescheiterten Putschversuch nehmen Übergriffe auf Flüchtlinge zu. Die türkische Regierung baut unterdessen immer mehr Druck auf geflüchtete Menschen auf.

Für viele Menschen ist die türkische Millionen-Metropole Izmir der letzte Anlaufpunkt vor der gefährlichen Überfahrt über das Meer in die Festung Europa. Nach Schätzungen leben rund 500.000 Flüchtlinge an der Mittelmeer-Küste rund um Izmir. Die geflüchteten Menschen werden vor Ort unter anderem von der linken NGO Halkların Köprüsü, Brücke der Völker, unterstützt. Ein Gespräch mit İdil Gökber einer 38-jährigen Lehrerin und Aktivistin der Brücke der Völker.

Idil Gökber

Idil Gökber. Bild: Tanja Boukal

İdil, wie sind die Lebensbedingungen für geflüchtete Menschen in Izmir?

Die Situation für die Menschen ist wirklich sehr schlecht. Einige leben in Unterkünften vor allem im Bahnhofsviertel Basmane, viele andere in Zelten rund um die Stadt. In diesen Zeltdörfern gibt es oft nicht einmal Elektrizität und Sanitäranlagen. Besonders schlimm ist die Situation in den geschlossenen Camps. Wir haben den Eindruck, dass dort durch psychologische Folter und Isolation versucht wird, die Menschen dazu zu bringen, die Türkei zu verlassen.

Es gibt auch zu wenig Lebensmittel. Wir sind insbesondere permanent auf der Suche nach Nahrung für die Kinder. Eigentlich verteilt die Stadt kostenlos Milch in armen Nachbarschaften. Flüchtlinge sind aber von der Verteilung ausgeschlossen. Auch auf anderen Ebenen gibt es eine Zweiklassengesellschaft. In Izmir gibt es beispielsweise einen großen Park mit Grünflächen, den Kültürpark. Flüchtlinge dürfen diesen Park nicht einmal betreten, wir halten das für einen Skandal.

Wovon leben die Flüchtlinge, können sie arbeiten?

Den meisten Leuten geht über kurz oder lang das Geld aus. Viele arbeiten in der Landwirtschaft, das geht ohne Sprachkenntnisse am besten. Oft werden sie dort von den Grundbesitzern als LohndrückerInnen gegen die kurdischen LandarbeiterInnen eingesetzt, die bisher die Jobs gemacht haben.

Für viele Frauen ist die Prostitution die letzte Möglichkeit. Aufgrund ihrer Zwangslage müssen die Frauen dann sogar die üblichen Preise in der Türkei unterbieten. Eine türkische Prostituierte verlangt in Izmir üblicherweise 100 Lira [rund 30 Euro] für einmal Sex. Viele Frauen aus Syrien müssen sich schon ab 25 Lira [rund 7,50 Euro] für einen ganzen Tag anbieten.

Die Sexindustrie ist ein gefährliches Business. Habt ihr Berichte über Übergriffe?

Sexuelle Übergriffe stehen leider auf der Tagesordnung. In den Lagern vergewaltigen auch die Aufseher immer wieder geflüchtete Frauen. Und wenn eine Frau ihre Scham dann tatsächlich überwindet, bringt das für die Betroffene meistens wenig konkreten Nutzen. Die Polizei versteht die Sprache nicht und ist zumeist auch nicht am Problem interessiert.

Auch viele Schmuggler beuten Frauen auf der Flucht sexuell aus. Oft versprechen die Schmuggler billigen Transfer gegen Sex. Ebenso oft stellen sich die Versprechungen dann aber als Lüge heraus.

Wenn es durch die Prostitution oder durch Vergewaltigungen zu ungewollten Schwangerschaften kommt, gibt es kaum Möglichkeiten für einen Abbruch. Es gibt zwar legale Abtreibungen, aber die 1500 Lira für die Abtreibung können sich nur wenige Frauen leisten.

Wie ist die gesundheitliche Situation der Flüchtlinge?

Wir haben es mit einem breiten Spektrum an gesundheitlichen Problemlagen zu tun, schließlich sind sehr viele Menschen mit sehr unterschiedlichen physischen und psychischen Schwierigkeiten auf der Flucht. Ein riesiges Thema sind auch die fehlenden Impfungen für die Kinder, hier müsste so schnell wie möglich etwas getan werden.

Wir arbeiten mit freiwilligen ÄrztInnen und PflegerInnen und versuchen, eine Grundversorgung herzustellen. Wir bieten beispielsweise Untersuchungen auf der Straße an. Manchmal können wir bei ernsthafteren Problemen in ein Spital geben, oft ist das nicht möglich.

Du hast jetzt schon mehrmals die Lage der Kinder angesprochen, kannst Du hier etwas mehr erzählen?

Der Großteil der Menschen, die aus Syrien flüchten, kommen als gesamte Familie. Wir haben also sehr, sehr viele Kinder, die wir betreuen. Da gibt es mehrere große Baustellen: die Ernährung, die Gesundheit und auch, was leider oft vergessen wird, die Schulausbildung.

Der Großteil der Kinder kann derzeit in der Türkei nicht in die Schule gehen. Wir brauchen ÜbersetzerInnen, wir brauchen Platz in den Schulen und wir brauchen eine bessere Grundversorgung. [Anmerkung: die Zahlen bestätigen die Aussagen von İdil Gökber: 38 % aller geflüchteten Menschen, die von Jahresbeginn bis Mitte August 2016 aus der Türkei in Griechenland ankamen, sind Kinder.]

Im März ist der Deal zwischen der EU und der Türkei in Kraft getreten. Was hat sich seither verändert?

Generell haben wir den Eindruck, dass seither weniger Menschen die Flucht versuchen. Das kann sich aber natürlich wieder ändern. Die Menschen werden weiter Möglichkeiten finden, nur die Routen werden gefährlicher werden. Eine neue Route könnte beispielsweise über Italien gehen. Ein Freund von mir hat die Reise über das Meer mittlerweile bereits sieben Mal versucht.

Gleichzeitig nimmt auch die Repression gegen Flüchtlinge in der Türkei zu. Beispielsweise betreuen wir eine afghanische Familie im Abschiebe-Lager Kırklareli Pehlivanköy. Die Familie wurde voneinander getrennt, die männlichen Mitglieder sind inhaftiert und dürfen nur 5 Minuten am Tag ins Freie. Einer älteren Frau wird dringend notwendige medizinische Versorgung verweigert.

Wie würdest Du die Stimmung in der türkischen Bevölkerung beschreiben?

Am Anfang haben sehr viele Leute geholfen. Jetzt ist das Problem, dass die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten immer mehr zunehmen, die Regierung aber nichts tut. Es fehlt vor allem an medizinischer Versorgung, Nahrung und Schulen. Damit werden auch jene Gruppen stärker, die gegen Flüchtlinge Stimmung machen. Bereits bevor die Flüchtlinge gekommen sind, hatte beispielsweise die Hälfte der Kinder nicht genug Nahrung für eine gesunde Entwicklung.

Es ist eben ein gesamt-gesellschaftspolitisches Problem. Die Arbeitssituation in der Türkei ist sehr schlecht, die Arbeitszeiten sind lang. Es gibt keine Versicherung und es gibt keine Pensionen. Aber die Bedingungen für Flüchtlinge sind noch schlimmer als die für die ortsansässige Bevölkerung. Die Regierung spielt die Armen gegen die noch Ärmeren aus.

Fluchtbedarf

Fluchtbedarf. Bild: Tanja Boukal

Wie hat sich die Situation durch den Putsch verändert?

Es versuchen jetzt klarerweise wieder mehr Flüchtlinge, aus der Türkei in die EU zu kommen. Mitglieder der Regierungspartei AKP und der faschistischen Grauen Wölfe haben in einigen Städten Flüchtlinge attackiert, auch syrische Geschäfte wurden angegriffen. In Izmir wurde Anfang August eine syrische Familie zwei Tage lang angegriffen, die Polizei stand daneben und hat zugesehen. Die Familie musste die Wohnung verlassen und konnte nichts retten außer ihrem Leben. Wir unterstützen diese Familie jetzt.

Was macht die „Brücke der Völker“, um das Leben der Flüchtlinge zu verbessern?

Wir haben vor rund zwei Jahren als sehr kleine Gruppe mit circa zehn Leuten angefangen. Aktuell haben wir mehrere hundert HelferInnen, bei größeren Versammlungen kommen um die hundert Leute zusammen.

Derzeit betreiben wir zwei Lokale in Izmir, wo wir verschiedene Angebote haben. Wir machen Sprachkurse für Flüchtlinge, wir spielen mit den Kindern, wir haben medizinische Gruppen. Wir machen gemeinsam Musik und tanzen, wir haben sogar eine Yogagruppe für Kinder.

Dann sammeln wir natürlich Lebensmittel, Kleidung oder Dinge des täglichen Bedarfs, beispielsweise Windeln. Wir machen auch politische Aktionen, beispielsweise politisches Theater. Eine gute Zusammenarbeit haben wir dabei mit der Gewerkschaft der Ingenieure.

Wir arbeiten auch eng mit anderen linken Flüchtlings-NGOs zusammen. Beispielsweise gibt es in der nahe gelegenen Küstenstadt Çeşme die İmece İnisiyatifi. Das funktioniert dann so, dass wir beispielsweise anrufen und sagen ,Hallo, wir haben Eier, braucht ihr was‘ und dann bringen wir etwas oder umgekehrt.

Was wäre für euch wichtig, was braucht ihr?

Aktuell sehen wir, dass die mediale Aufmerksamkeit sich auf Griechenland konzentriert. Damit geht die meiste Unterstützung nach Griechenland und auch die meisten internationalen Freiwilligen gehen dorthin. Dort ist zweifellos auch dringend Hilfe notwendig. Die Lage der Flüchtlinge Türkei gerät dadurch aber leider völlig aus dem Fokus der internationalen Berichterstattung.

Wir bräuchten etwa dringend Spenden und freiwillige HelferInnen, damit wir unsere Arbeit fortsetzen können. Für uns wäre also sehr wichtig, dass es mehr Berichte darüber gibt, wie die Situation der geflüchteten Menschen in der Türkei ist und unter welchen Bedingungen sie leben müssen.

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