Eine Frau kostet 9000 Dollar

[FM4] Der Film „Sonita“ wird in österreichischen Flüchtlingslagern intensiv diskutiert.

Erstveröffentlichung: FM4, 10.12.2016

Einmal ging eine unserer Freundinnen in eine Moschee, um mit dem Prediger zu diskutieren. Der bemerkte sofort, dass ihre Ideen eine Gefahr darstellten. Er zerriss einen Koran und behauptete, dass sie das getan hätte. Die Frau wurde daraufhin von einem Mob gelyncht.“ Es ist ein junger Mann aus Herat in Afghanistan, der mir diese Geschichte erzählt. Er möchte mir noch das Video zeigen, wo zu sehen ist, wie die Frau ermordet wurde. Ich lehne ab, will nicht, dass sich solche Bilder in mein Gedächtnis brennen.

Ich bin in einem Flüchtlingslager, irgendwo im Nirgendwo in der Nähe von Wien. Die engagierte NGO „Flucht Nach Vorn“ zeigt in diesen Tagen in mehreren Flüchtlingscamps in Ostösterreich den Film „Sonita“ von Rokhsareh Ghaemmaghami. Die iranische Regisseurin ist sogar selbst angereist und stellt sich nach dem Film den Diskussionen.

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Das Thema ist nicht einfach: Sonita Alizadeh, die Hauptdarstellerin des dokumentarischen Films, ist ein junges Mädchen aus Afghanistan. Sie ist als Flüchtling im Iran aufgewachsen, nun soll sie gegen ihren Willen verheiratet werden, damit die Hochzeit ihres Bruders finanziert werden kann.

Völlig rechtlos

Sonita lebte den Großteil ihres Lebens als Mensch zweiter Klasse im Iran. Die Angst vor den Behörden und der Polizei ist dort eine permanente Begleiterin für die insgesamt bis zu 3 Millionen geflüchteter Menschen aus Afghanistan. Sonita hat keine Papiere, ist weitgehend rechtlos, sie durfte nicht einmal in die Schule gehen. Lesen und Schreiben lernte sie in einer privaten Schule für afghanische Flüchtlingskinder, ein formelles Zeugnis hat sie nie bekommen.

Regisseurin Rokhsareh Ghaemmaghami erzählt von ihren eigenen Erfahrungen: „Afghane ist im Iran ein gebräuchliches Schimpfwort. Einmal fragte mich während der Dreharbeiten ein Beamter in Teheran, ob ich auch Afghanin sei. Als ich verneinte, entschuldigt er sich in Gegenwart von Sonita bei mir für die Beleidigung.“ Auch die Sprache ist dabei ein Thema: das in Afghanistan gebräuchliche Dari ist mit dem iranischen Farsi eng verwandt, gegenseitige Verständigung ist problemlos möglich. Doch im Iran gilt Dari als ungebildeter Bauerndialekt.

Eine starke Frau

Sonita trotzt mit erstaunlicher Widerstandskraft den Beschwerlichkeiten des Alltags. Der Film, für den Ghaemmaghami die junge Sonita rund ein Jahr lang begleitete, zeigt eine kluge und sehr selbstbewusste junge Frau. Und diese Frau hat im Leben eine einzige große Leidenschaft: die Musik.

Über das Rappen drückt Sonita ihre Gefühle und ihr Leben aus. Sie erzählt mit Musik von ihrer unerträglichen sozialen Situation, über ihre Angst vor der Zwangsheirat und über die Gewalt, mit der junge Mädchen in die Betten der Männer gezwungen werden. Und Sonita hat viel zu erzählen.

Die Flucht vor den Taliban

Eine der eindringlichsten Szenen des Films ist bereits zu Beginn zu sehen. Sonita wird in Teheran von der NGO „Haus der Liebe“ unterstützt, die BetreuerInnen machen mit ihr eine Familienaufstellung. Sonita erinnert sich zurück an ihre Kindheit, zeigt ihre Flucht aus Afghanistan. Sie stellt die anderen Jugendlichen im Raum auf, so wie sie die Situation damals erlebte. Eine der Jugendlichen muss nun am Boden knien, über ihr steht ein anderes Mädchen mit einer Pistole in der Hand. Eine dritte junge Frau kniet entsetzt und flehend daneben.

Die knieende Person ist ihr Vater, die Person mit der Waffe ein Kämpfer der Taliban, das dritte Mädchen ist sie selbst. Sonita macht die Familienaufstellung, auf einmal beginnt sie zu weinen. Während dieser Szene wird es auf einmal ganz still im Saal des Flüchtlingslagers, nachdem vorher noch Popcorn herumgereicht wurde.

9000 Dollar

Sonita war ein kleines Mädchen, als sie in den Iran flüchtete, nun ist sie eine junge Frau. Auch ihr Bruder ist inzwischen herangewachsen und soll heiraten. Doch Frauen kosten Geld: die Familie soll für die künftige Braut des Bruders rund 9000 Dollar bezahlen, es bleibt unklar, ob es sich hierbei um eine Zwangsheirat handelt.

Die Familie jedenfalls sieht eine sehr einfache und gebräuchliche Lösung: Sonita soll als Braut verkauft werden, mit dem Geld für sie würde dann die Frau des Bruders finanziert. Der Kreislauf kommt so nie zu einem Ende. Sonita will diese Heirat nicht, mit ihren Freundinnen unterhält sie sich darüber. Eine erzählt, dass sie bereits verkauft wurde. „Haben sie Dich geschlagen?“, fragt eine andere.

Das junge Mädchen nickt, doch niemand ist schockiert. Sowohl die Frage wie die Antwort sind ganz selbstverständlich. Irgendwann im Film sagt die Mutter: „Wir verkaufen unsere Tochter, um für unsere Mahlzeit bezahlen zu können.“ Die Frau ist eine Handelsware.

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„Sehen Sie sich das an!“

Der Saal des Flüchtlingslagers, wo der Film vorgeführt wird, füllt sich währenddessen immer mehr. Regisseurin Ghaemmaghami und Anahita Tasharofi von „Flucht nach vorn“ sind enorm engagiert, gehen von Raum zu Raum, laden die Menschen ein, überzeugen. Im Saal sind Männer und Frauen, sie kommen aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak. Die Gesichter sind oft traurig, manche erkennen vielleicht im Film ihre eigene Geschichte oder die ihrer Mütter, Schwestern oder Cousinen.

Sonita sucht währenddessen im Film nach einem Ausweg. Sie will musikalisch ihre Geschichte erzählen und sie will vor allem nicht heiraten. Wahrscheinlich ist es auch der Kontakt mit Rokhsareh Ghaemmaghami, der Mut und Perspektive gibt. Und an einem bestimmten Punkt bricht der Film auch, denn Ghaemmaghami wird involviert, wird Protagonistin. Sonita fragt sie um die Kamera, bekommt sie. Nun ist die Regisseurin im Bild, jetzt werden ihr selbst Fragen gestellt.

Ghaemmaghami erzählt mir später von ihrer Zwiespältigkeit: „Auf einmal wurde ich in meine eigene Geschichte gezogen. Mit 2000 Dollar hätte ich Sonita vorläufig retten können, das ist der Preis einer schlechten Filmkamera. Wie könnte ich das nicht tun?“ Doch Ghaemmaghami stellte sich auch die Frage, was das für ihren Film bedeutet.

Kunst im Zwiespalt

„Die Situation war absurd, ich kann doch meinen eigenen Film nicht ruinieren. Aber ich kann auch nicht zu einem Festival gehen und mich bejubeln lassen, wenn dafür jemand verkauft wird. Das geht nicht.“ Ghaemmaghami beschließt also, selbst zur Darstellerin zu werden, selbst Teil ihrer Geschichte zu sein. Und das war wahrscheinlich auch der ehrlichste Ansatz.

Denn Ghaemmaghami veränderte allein durch ihre Präsenz bereits den Lauf der Geschichte. Ohne sie hätte Sonita wahrscheinlich kaum eine andere Perspektive gesehen, als die Zwangsheirat schließlich über sich ergehen zu lassen. Über Vermittlung der Regisseurin gewinnt Sonita dann sogar einen Preis als beste Rapperin bei einem internationalen Festival.

Doch im Video, das sie für ihren Song gemacht hat, singt Sonita als Frau solo. Das ist im Iran untersagt, die NGO in Teheran darf nun offiziell nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten. Ihre Situation hat sich nun sogar noch verschlechtert.

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Die Perspektive verändert sich

Doch es tut sich ein Fenster auf: eine Schule in den USA bietet ein Stipendium an, dafür müsste Sonita allerdings nach Afghanistan und dort Reisepass und Visum beantragen. Ein gefährliches Unterfangen, denn wenn die dortigen Behörden ablehnen, darf sie nicht zurück in den Iran und ist ihrer Familie und der möglichen Zwangsheirat ausgeliefert.

Nach der Vorführung des Films – das Ende soll an dieser Stelle nicht verraten werden – beginnen überall im Saal und davor Diskussionen. Die Menschen erzählen über ihre eigenen Erfahrungen und bestätigen, was der Film zeigt. Viele sind mehrfach betroffen: einerseits können Sie sich selbst in Sonita wieder erkennen, denn sie ist geflüchtet, genauso wie sie es taten. Andererseits kennen viele auch die Problematik der Zwangsheirat sehr gut.

„Warum dürfen sie nicht zur Schule gehen“

Ein älterer Mann aus Afghanistan, der selbst 30 Jahre im Iran lebte, erzählt von seinen Erfahrungen: „Die Gesellschaft sieht Frauen nicht als Menschen an. Die religiösen Prediger kämpfen nicht für Menschlichkeit, sondern für mehr Geld. Denn warum schicken Sie die Mädchen nicht in die Schule, wenn Ihnen die Menschen angeblich so wichtig sind?“

Er berichtet auch von der brutalen sozialen Realität: „Vielen Flüchtlingen im Iran fehlt es am Allernotwendigsten. Ich habe Kinder gesehen, die besaßen nicht einmal Zahnbürsten.“ Ein Mann daneben erzählt ein Erlebnis aus Afghanistan: „Einmal haben sie sogar eine Leiche ausgegraben, die keinen Bart hatte. Dann wurde der Leichnam ausgepeitscht und anschließend wieder eingegraben. Das ist doch völlig wahnsinnig!“

Als ein Zuhörer einwirft, dass es ohnehin am besten wäre, wenn tote Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt würden, nicken alle. Ein weiterer Mann in der Runde bleibt allerdings die ganze Zeit schweigsam. Später werde ich hören, dass er im Sommer seinen Sohn bei einem Anschlag des IS verloren hat.

„Eine Message für Jugendliche“

Anahita Tasharofi von Flucht Nach Vorn kennt Erlebnisse, wie sie in der Gruppe geschildert werden, nur allzu gut. Sie war selbst Betreuerin im „Haus der Liebe“ in Teheran und ist dort in Kontakt mit der Regisseurin gekommen: „Für mich ist der Film eine ganz wichtige Message für Jugendliche, die von Armut, Krieg oder Zwangsheirat bedroht sind. Sonita gibt nicht auf und kämpft um ihre Zukunft. Auch andere Jugendlichen sollen sehen, dass es eine Chance gibt, die eigenen Ziele zu erreichen.

Anschließend erzählt mir Regisseurin Ghaemmaghami über ihre Motivation zu diesem Film: „Soziale Gerechtigkeit war immer das Leit-Thema meines Lebens. Ich bin mit linker Kinderliteratur groß geworden, später waren es Oliver Twist oder Les Miserables von Victor Hugo.“ Sonita hat sie über eine Cousine kennengelernt, die Sozialarbeiterin bei der NGO „Haus der Liebe“ ist.

Der Film bewegt

Ihre Erfahrungen bei den Filmvorführungen sind sehr unterschiedlich: „Die meisten Leute mögen meinen Film sehr, vor allem die jungen. Aber es gibt auch Widerstand, manchmal wird mir etwa vorgeworfen, dass ich als Iranerin die Menschen in Afghanistan als rückschrittlich darstellen wollen würde.“ Einmal sei es aber auch zu einer sehr gefährlichen Situation gekommen.

„In Brüssel mussten einige Frauen um Mitternacht das Lager verlassen, weil sie nicht mehr sicher waren.“ Doch insgesamt überwiegen für Ghaemmaghami die positiven Erlebnisse ganz eindeutig: „Frauen bedanken sich oft weinend, auch sehr viele Männer zeigen sich solidarisch und denken wohl auch an ihre eigenen weiblichen Verwandten.“

Anahita Tasharofi berichtet von ähnlichen Erlebnissen: „Ich war wirklich positiv überrascht, wie viele Männer und Frauen sich sehr mutig geäußert haben.“ Sie berichtet, dass der Film nicht nur für die geflüchteten Menschen aus Afghanistan und dem Iran wichtig war: „Auch Männer aus Syrien und dem Irak haben uns viel erzählt. Sie hatten furchtbare Geschichten aus ihren Ländern und haben sich danach bei Ghaemmaghami für ihren Film bedankt.“

Die Helden des Westens?

Mit der Rezeption ihres Films ist Regisseurin Ghaemmaghami hingegen nicht immer ganz zufrieden: „In den Ländern des Westens wird der Film so verstanden, dass hier die Helden wären, weil sie versuchen würden, Sonita zu retten. Aber wer die Politik der USA im Mittleren Osten und in Afghanistan betrachtet, wird Schwierigkeiten haben, irgendeinen Punkt zu finden, wo die USA Afghanistan gerettet hätten.“

Für ihren nächsten Film möchte Rokhsareh Ghaemmaghami ihren Fokus verändern: „Es war für mich wirklich schwierig, diese unglaubliche Armut über einen langen Zeitraum hautnah mitzuerleben.“ Und somit steht für Ghaemmaghami auch ihr nächstes Projekt fest: „Ich will keinen weiteren Film über arme Leute machen. Jetzt werde ich mal über diejenigen berichten, die verantwortlich sind für die Armut.“

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