Interview: Gute Arbeit gewinnt an Gewicht

[AW] Georg Michenthaler vom IFES forscht seit Jahren zur Arbeitswelt. Betriebsräte sind für ihn auch in der individualisierten Welt noch zeitgemäß. Arbeitszeitverkürzung wäre eine weitgehend akzeptierte Forderung.

Arbeit&Wirtschaft: Der Neoliberalismus will uns lehren, dass jeder Mensch selbst seines Glückes Schmied sei. Brauchen Belegschaften in so individualisierten Zeiten noch kollektive Organisierung und BetriebsrätInnen?

Georg Michenthaler: Zeitgemäß sind Betriebsräte auf jeden Fall. Doch vieles ist schwieriger geworden. Die Arbeitswelt und Arbeitsprozesse haben sich verändert. Die Arbeit wird selbstbestimmter und weniger disziplingesteuert, es zählt das Ergebnis. Das fördert die Individualisierung. Es gibt heute viele unterschiedliche Erwartungen, und damit wird es oft schwieriger, kollektive Interessen zu identifizieren und zu vertreten.

Zur Person: Georg Michenthaler ist wissenschaftlicher Projektleiter am Institut für empirische Sozialforschung (IFES). Erstmals Mitglied der Gewerkschaft wurde er 1972 als Ferialarbeiter beim Kraftwerksbau, bei IFES war er später auch Betriebsratsvorsitzender. Michenthaler hat den Arbeitsklimaindex der Arbeiterkammer Oberösterreich mitentwickelt, der seit mehr als 20 Jahren erhoben wird.

Wo sehen Sie solche unterschiedlichen Erwartungen?

Früher war beispielsweise die gewünschte Arbeitszeit im Durchschnitt deutlich höher als heute. Da waren Überstunden ein wesentlicher und oft notwendiger Teil des Einkommens. Für jüngere Menschen ist es heute dagegen oft viel wichtiger, mehr Zeit mit Familie und Kindern zu verbringen.

Gute Arbeitsbedingungen gewinnen gegenüber der Höhe des Einkommens an Gewicht. Immer wichtiger werden die Qualität der Arbeit, die Gesundheit, die Nachhaltigkeit und das Wohlbefinden. Arbeitszeitverkürzung wäre daher heute eine weitgehend akzeptierte Forderung. Eine Arbeitszeitverkürzung könnte auch die ungleiche Geschlechterverteilung bei der Teilzeitarbeit reduzieren.

Wo gibt es heute in Österreich starke Belegschaftsvertretungen und wo sind die größten Baustellen?

Die stärksten Belegschaftsvertretungen gibt es dort, wo die Organisierung am besten möglich ist – Ursache und Wirkung sind da austauschbar –, also klassisch in den großen Produktions- und Dienstleistungsunternehmen.

Besonders gut organisierte Bereiche sind der öffentliche Dienst, die Industrie, der großbetriebliche Bausektor, Banken und Versicherungen sowie große Hilfsorganisationen und Handelsketten. Im Gewerbe wird es schon schwieriger. Eine ziemlich schwache Organisierung gibt es etwa in der Gastronomie oder generell im kleinbetrieblichen Dienstleistungssektor. Das sind auch Branchen, in denen viele Frauen, viele Teilzeitbeschäftigte und viele MigrantInnen arbeiten.

Wo Arbeitskräfte aufgrund des Qualifikationsniveaus über wenig Arbeitsmarktstärke verfügen und leicht austauschbar sind, ist auch die Interessenvertretung schwieriger.

Eine zunehmende Baustelle sind die vielen neuen quasiselbstständigen Beschäftigungsverhältnisse, die sogenannte „Gig-Economy“. Das sind oft temporäre Jobs, wo Beschäftigte kaum zu organisieren sind. Und dann gibt es auch Bereiche mit einer sehr individualistischen Mentalität, etwa viele Start-ups.

In kleinen Betrieben ist es schließlich oft nicht einfach, einen Betriebsrat zu gründen, oft fehlt auch Interesse. Teils gibt es starke Betriebsidentitäten, die der Gründung von Betriebsräten im Wege stehen. Da gibt es teils hohe Verbundenheit mit dem Betrieb und die – oft wohl illusionäre – Hoffnung, sich die Dinge mit dem Chef selbst ausmachen zu können.

Es gibt aber durchaus eine Reihe großer Unternehmen, die über keine betriebliche Interessenvertretung verfügen. Das liegt meist nicht am fehlenden Interesse, sondern es gab zumeist Widerstände seitens der Geschäftsführungen gegen eine Betriebsratsgründung. Versuche, einen solchen zu gründen, haben für InitiatorInnen oft negative Folgen.

Welche Modelle wären möglich, um auch in schwächer organisierten Branchen die gewerkschaftliche Kampfkraft zu erhöhen?

Die besten OrganisatorInnen sind immer die BetriebsrätInnen vor Ort. Besonders schwierig ist es da, wo Anker fehlen. Da, wo es Betriebsräte gibt, gibt es etwa auch einen substanziell höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad und auch die Neurekrutierung ist leichter.

Wichtig sind natürlich auch Kampagnen für die Gründung von neuen Betriebsräten. Bei der Gewinnung neuer Mitglieder schließlich können auch innovative Wege beschritten werden, etwa in der Kommunikation, im Auftreten oder in der Form der Mitgliedschaft.

Was waren Ihre ersten eigenen Erfahrungen mit der Gewerkschaft?

Erstmals Mitglied wurde ich 1972, damals bei der Gewerkschaft Bau-Holz. Ich war Ferialarbeiter beim Kraftwerksbau in Ferlach. Auf großen Baustellen wie dieser war es selbstverständlich, der Gewerkschaft beizutreten.

Als Betriebsratsvorsitzender von IFES habe ich dann im Grundkurs der GPA erlebt, was Gewerkschaft bedeutet. In diesem Grundkurs waren BetriebsrätInnen aus ganz Österreich und aus unterschiedlichsten Branchen. Dort habe ich festgestellt, dass die Grundanliegen und Grundprobleme der Beschäftigten über alle Branchen recht ähnlich sind. Es verbindet uns weit mehr, als uns trennt.

Was wollen die Beschäftigten heute von ihrer betriebsrätlichen Vertretung?

Aus unseren Studien wissen wir, dass Kommunikation für die Belegschaften extrem wichtig ist. Wohlgemerkt: Kommunikation und nicht nur Information. Das bedeutet engen Kontakt und Austausch mit der Belegschaft und Inputs durch die Belegschaft.

Von BetriebsrätInnen wird erwartet, dass sie auf die Rahmenbedingungen schauen. Da gibt es die klassischen Themen wie Einkommen, Arbeitszeit und die Personalpolitik, also Einstufungen, Kündigungen oder Entlassungen. Dazu kommen neue Themen wie Gesundheit und Digitalisierung.

Zu überlegen wären in diesem Zusammenhang eine breitere Arbeitsteilung und Delegierung innerhalb der Betriebsratskörperschaften. In großen und komplexen Betrieben gibt es heute viele SpezialistInnen für die verschiedenen Bereiche. Betriebsratskörperschaften können davon sicher lernen und ebenfalls SpezialistInnen für verschiedene Bereiche ausbilden. Die Betriebsratsvorsitzenden können natürlich nicht allein SpezialistInnen für alles sein.

Und schließlich haben die BetriebsrätInnen noch eine weitere wesentliche Funktion – wir könnten von einem „Kollateralnutzen“ sprechen: Das ist die Schiene zu kollektiven Vertretungen wie Arbeiterkammer und Gewerkschaften.

Die BetriebsrätInnen geben hier Informationen an die Belegschaften weiter, etwa über Möglichkeiten der rechtlichen Vertretung. Im Gegenzug sehen wir auch, dass etwa die Beteiligung an den Wahlen zur Arbeiterkammer wesentlich höher ist, wo es Betriebsratskörperschaften gibt. Wo es keine Betriebsrätinnen gibt, haben die Beschäftigten insgesamt oft stärker den Eindruck, auf sich allein gestellt zu sein.

Sie haben die Kommunikation angesprochen: Wie können sich die BetriebsrätInnen gut mit den Belegschaften rückkoppeln?

Betriebsversammlungen werden in Österreich oft schon als Vorstufe zum Streik angesehen. Doch solche Versammlungen könnten und sollten viel öfter stattfinden. Bestimmte Fragen müssen ja sogar in einer Betriebsversammlung abgestimmt werden.

BetriebsrätInnen sollten die Belegschaften öfter zu wichtigen Themen abstimmen lassen – hinhören und die eigene Tätigkeit bestätigen lassen. Auch ein regelmäßiger Jour fixe ist eine gute Idee. Dazu kommt natürlich die Information über eigene Medien.

Auch die Arbeitswelt hat sich verändert, und weniger Menschen bleiben lebenslang im gleichen Betrieb. Alle fünf Jahre die Betriebsratskörperschaft zu wählen ist ein Modell, das auf Großbetriebe in den 1950er-Jahren abzielt. Das spiegelt nicht immer den Stand der Möglichkeiten und die Realität der Beschäftigungsverhältnisse wider. Hier könnte man häufigere Wahlen oder ein Nachrückprinzip überlegen, um die Repräsentation der unterschiedlichen fluktuierenden Beschäftigtengruppen zu verbessern.

Wie gut repräsentieren Betriebsratskörperschaften in Österreich die Belegschaften, etwa im Hinblick auf Geschlecht, Herkunft oder Alter?

Die Betriebsratsstrukturen spiegeln heute sicher oft weit mehr das männliche Normalarbeitsmodell wider als die Belegschaften insgesamt. Das hat mit den geschichtlichen Hintergründen der Gründung von Betriebsräten in den großen, männlich dominierten Produktionsstätten und Fabriken zu tun. Aber auch mit eingeschränkten Möglichkeiten, etwa von Frauen, eine Betriebsratsfunktion zu übernehmen.

Heute sind Frauen, Junge und MigrantInnen insgesamt in den Betriebsratskörperschaften klar unterrepräsentiert. Daraus kann natürlich ein Repräsentationsproblem entstehen, wenn die Betriebsratsstrukturen sich nicht aktiv um entsprechenden Nachwuchs bemühen.

Das betrifft vor allem große Betriebe, in denen zu den BetriebsrätInnen kein persönlicher Kontakt mehr besteht. Wenn das dann eine Person ist, in der ich mich überhaupt nicht wiederfinde, kann schnell ein Gefühl entstehen, dass die BetriebsrätInnen gar nicht wissen, wie es mir geht. Ich bin auch kein Freund des „Berufsbetriebsrats“. Da gehen sehr viele Erfahrungen aus der Arbeitswelt verloren.

Wie sehen Sie speziell die Repräsentanz von Frauen und MigrantInnen?

Frauen sind hier eindeutig unterrepräsentiert. Im Handel oder im Gesundheitssektor gibt es zwar viele Betriebsrätinnen, oft sind sie dann aber nicht Betriebsratsvorsitzende, obwohl die Belegschaft mehrheitlich weiblich ist. Das hat auch strukturelle Gründe. Betriebsratsarbeit passiert oft in der Freizeit, und die familienbedingte zeitliche Mehrfachbelastung hängt immer noch meistens an Frauen.

Besonders hohen objektiven Vertretungsbedarf gibt es sicher in den Bereichen, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten. Es wird aber besser, vor allem im Handel, im Reinigungsbereich, am Bau und in der Industrie. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass bis vor wenigen Jahren Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft gesetzlich noch gar nicht passiv zum Betriebsrat wahlberechtigt waren.

Und was haben die Beschäftigten heute noch von einer betriebsrätlichen Vertretung?

Wir haben uns im Arbeitsklimaindex vergleichbare Betriebe herausgesucht, Betriebe mit Belegschaften zwischen 50 und 200 MitarbeiterInnen, jeweils mit und ohne Betriebsrat. Es zeigt sich, dass da, wo es Betriebsräte gibt, die Einkommensspannen zwischen Höchst- und NiedrigstverdienerInnen geringer sind, und zwar zum Vorteil der MindestverdienerInnen. Auch die durchschnittliche Dauer der Beschäftigung im Betrieb ist höher, daneben gibt es noch eine Reihe weiterer positiver Aspekte.

Wo lauern aus Ihrer Sicht aktuell besondere Gefahren?

Die derzeitige Bundesregierung hat eindeutig bestimmte Interessen, es gibt eine klare Schieflage zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen. Es geht in die Richtung, die Rechte von ArbeitnehmerInnen eher zu reduzieren und damit auch die Voraussetzungen zu schaffen, um möglichen Widerstand gegen arbeitnehmerInnenfeindliche Maßnahmen zu verringern.

Wären die Jugendvertrauensräte abgeschafft worden, hätte man eine relevante Gruppe von spezifischer Mitbestimmung ausgeschlossen. Damit würde auch der Nachwuchs in der Betriebsratsarbeit fehlen.

Wenn es durch eine Zusammenlegung von Körperschaften insgesamt weniger BetriebsrätInnen gibt, muss die betriebsrätliche Arbeit auf weniger Menschen aufgeteilt werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass nur die BetriebsrätInnen rechtlich durch den besonderen Kündigungsschutz abgesichert sind.

Die Regierung ließ Fragen zur Überstundenbezahlung und zur Arbeitszufriedenheit aus einer Umfrage der Statistik Austria streichen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Die Regierung ist offensichtlich weniger daran interessiert, dass Statistiken zur Arbeitswelt und Arbeitszufriedenheit erhoben werden. So gibt es offensichtlich kein Interesse daran, dass die Statistik Austria im Rahmen ihrer regelmäßigen Erhebungen heiklen Fragestellungen nachgeht, beispielsweise den Auswirkungen von All-inclusive-Verträgen. Insofern könnte auch der Arbeitsklimaindex künftig noch deutlich mehr an Bedeutung gewinnen.

Abschließend ein Blick in die Zukunft: Wo sollten die BetriebsrätInnen künftig Ihrer Meinung nach noch genauer hinsehen?

Die Betriebsräte bräuchten meines Erachtens deutlich mehr Rechte bei der wirtschaftlichen Mitbestimmung und bei strategischen Grundsatzentscheidungen. BetriebsrätInnen werden oft extrem kurzgehalten, was die Informationen betrifft. Teilweise könnte das sogar eingeklagt werden.

Die Betriebsräte bräuchten deutlich mehr Rechte bei der wirtschaftlichen Mitbestimmung und bei strategischen Grundsatzentscheidungen.

 

Für die Sozialpläne sind die Betriebsräte meistens gut genug. Wenn es darum geht, die Scherben aufzukehren, werden sie zum anerkannten Player. Doch es sollte bereits zuvor viel mehr Mitbestimmung in wirtschaftlichen Fragen geben.

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