Raus aus dem IS: Der Weg von Jamal al-Khatib

Bild: Verein Turn

[FM4] In Videos erzählt der junge Wiener Jamal al-Khatib über seinen Weg in die djihadistische Szene – und warum er sie wieder verlassen hat.

[Erstveröffentlichung: FM4] „Ich bin Jamal al-Khatib und lebe seit 16 Jahren in Österreich. In meiner Heimat war Krieg. Deshalb ist meine Familie hierhergekommen. Aber auch hier war mein Leben bisher alles andere als friedlich.“

Mit diesen Worten, religiöser Musik und dem islamischen Friedensgruß beginnt die Geschichte von Jamal al-Khatib. „Viel Scheiße gebaut“ habe er, erzählt er in einem Video. Er habe auch mit dem Gedanken gespielt, nach Syrien zu gehen und gegen Assad zu kämpfen. Mittlerweile würde er aber nicht mehr glauben, dass das der richtige Weg sei.

Inzwischen gibt es mehr als ein Dutzend solcher Videos – Jamal spricht über Ehre, Stolz und Glauben, aber auch über Demokratie, Rassismus und Polizeigewalt. Und die Videos kommen an: Insgesamt wurden sie allein auf YouTube bereits rund 350.000 Mal angeklickt, dazu gibt es Kanäle auf Instagram und Facebook. Doch Jamal al-Khatib gibt es nicht wirklich: Der Name ist ein Pseudonym.

Bild: Michael Bonvalot

Dem Djihadismus entgegentreten

Hinter Jamal stehen allerdings echte junge Männer. Ihre realen Geschichten und Biographien wurden für die Videos zur Figur Jamal al-Khatib verdichtet. Es sind junge Männer aus Wien, sie haben mit der Terrororganisation „Islamischer Staat“ und dem Djihadismus sympathisiert. Nun wollen sie andere davon abhalten, den gleichen Fehler zu machen. Entstanden sind die Videos in einer Zusammenarbeit dieser jungen Menschen mit den Fachleuten vom Präventionsverein Turn, unterstützt von der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung.

„Wir haben in Wien vor allem ab 2013 bemerkt, dass sich eine djihadistische Jugendszene herausbildet“, erzählt Florian Neuburg, Mitarbeiter des Projekts und erfahrener Jugendarbeiter. Es ist der Zeitraum, in dem die massive territoriale Ausdehnung des sogenannten Islamischen Staats beginnt. Es seien fast ausschließlich Burschen gewesen, sagt Neuburg.

„In der offenen Jugendarbeit, in den Jugendzentren, beim Streetwork haben wir immer öfter einschlägige Symbole und bestimmte Kleidungsstile bemerkt. Wenn das altersmäßig möglich war, haben manche auch den Bart stehen lassen“, berichtet Neuburg. Es sei eine Mischung gewesen: einerseits die Vorschriften aus der neosalafistischen Szene, andererseits fast klassische jugendkulturelle Züge. Unter den Jugendlichen sei auch intensiv diskutiert worden, erzählt der Soziologe.

„Das ging mitten durch Freundeskreise und Familien, pro und contra IS und Neosalafismus.“ Es sei auch für ihn eine harte Zeit gewesen, sagt Neuburg. „Einige Jugendliche, die ich über Jahre betreut habe, sind sogar nach Syrien gegangen und teilweise dort gestorben.“ Für die Einrichtungen der sozialen Arbeit sei das eine große Herausforderung gewesen, erzählt er.

Zwei junge Männer im Sonnenuntergang

Verein Turn

„Wir haben uns einerseits die Aufgabe gestellt, im Dialog zu bleiben. Andererseits war für uns auch klar, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ein politisches No-Go ist und wir da Kontra geben.“ Ein schwieriger Spagat.

Doch schließlich habe eine ganze Reihe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen begonnen, ihre Positionen zu hinterfragen. Der erste Impuls, die eigenen Erfahrungen zu teilen, sei von einem Jugendlichen gekommen. „Wir wollen aktiv auftreten, wir wollen, dass unsere Erfahrungen weitergegeben werden, damit andere nicht denselben Fehler machen“, habe ein Jugendlicher gesagt, erzählt Neuburg. So entstand das Projekt „Jamal al-Khatib – Mein Weg“.

Die Motivationen für den Ausstieg seien unterschiedlich gewesen, sagt der Sozialarbeiter. „Teilweise war es eigene Reflexion, teilweise waren es Interventionen von Familien und auch aus der Jugendarbeit.“ Mit vielen dieser Jugendlichen habe es bereits eine langjährige Beziehungsarbeit gegeben, die auch während der Zeit in der Szene nicht abgerissen sei. „Jugendarbeiter*innen haben immer wieder Angebote gemacht und dann auch den Ausstieg aus der Szene begleitet“, erzählt Neuburg.

Online-Formate kommen an

„Die Idee der Online-Formate ist dann in der Zielgruppe hervorragend angekommen“, erzählt Eşim Karakuyu, ebenfalls Mitarbeiterin bei Turn. „Dieses Format wird in der Jugendarbeit leider sehr wenig genutzt“, sagt die Sozialpädagogin. Doch es sei wichtig, mit alternativen Erzählmethoden dort präsent zu sein, wo auch die Jugendlichen nach Informationen suchen.

Der Erfolg gibt dem Projekt recht: Anonymisiert wurde etwa ausgewertet, welche Seiten und Kanäle jene Menschen gelikt und abonniert haben, die auch Fans von Jamal al-Khatib sind. Seit kurzem ist die Auswertung der zweiten Staffel nun fertig. „Da haben wir gesehen, dass sehr viele unserer Follower ansonsten stark neosalafistische und djihadistische Pages liken“, erzählt Neuburg. „Wir sind also voll in der Zielgruppe angekommen.“

Auch die Reaktion neosalafistischer Kreise auf das Projekt würde das unterstreichen. „Wenn du dich im Netz mit Djihadismus oder Salafismus auseinandersetzt, kommst du inzwischen sehr schnell auf Jamal“, erzählt Karakuyu. Daher habe es sehr schnell Gegenwind gegeben, teils regelrechte Shitstorms. Doch: „Für uns zeigt das, dass wir genau dort angekommen sind, wo wir hinkommen wollten.“

Besonders zwei Videos hätten für Shitstorms aus dem neosalafistischen Spektrum gesorgt, „Takfir“ und „Shirk und Demokratie“. Takfir, das bedeutet, anderen MuslimInnen den Glauben abzusprechen, sogar wenn es um die eigene Familie geht. Shirk bedeutet Götzendienst, darunter verstehen DjihadistInnen etwa auch Wahlen. „Beides sind zentrale Elemente der Ideologie des IS“, erklärt Neuburg.

Andere Sichtweisen

Allein „Takfir“ wurde auf YouTube über 30.000 Mal angesehen, „Shirk und Demokratie“ sogar über 60.000 Mal. „Wir haben offensichtlich Themen angesprochen, die unsere Zielgruppe ganz konkret beschäftigen“, sagt Karakuyu.

Das sei beim gesamten Projekt besonders wichtig gewesen: Ganz nah an den Themen bleiben, die die Jugendlichen und jungen Erwachsenen betreffen. Es sei auch eine wichtige Motivation für die Jugendlichen gewesen, die beim Projekt mitgearbeitet haben. „Die Videos haben den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, ihre Sichtweise einem breiteren Publikum zu präsentieren“, sagt Neuburg.

Einstieg in die Szene als Revolte gegen die Marginalisierung

Für den Einstieg in die Szene zentral gewesen sei oft eine enorme Perspektivlosigkeit, gekoppelt mit Erfahrungen von Rassismus und Marginalisierung. „Hier hält mich nichts mehr, ich suche eine Gemeinschaft, die mich akzeptiert.“ Das habe er oft gehört, sagt der Sozialarbeiter. Es seien oft besonders politisch interessierte Jugendliche gewesen, mit denen er darüber gesprochen habe.

Dazugekommen seien bestimmte Vorstellungen von reaktionärer Männlichkeit, eine Suche nach Heldenpaten oder auch die jugendliche Lust an der Action. In den Videos hätten die Jugendlichen nun erklären können, warum sie in die Szene gegangen sind – und warum sie sie auch wieder verlassen haben. Für Neuburg ein wichtiger Aspekt: „So konnten die Jugendlichen auch selbst sprechmächtig werden.“

Vier junge Männer in der Nähe von Bahngeleisen

Verein Turn

In den Videos war Raum für ihre politische Kritik an Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Marginalisierung, Racial Profiling durch die Polizei und am Rassismus. „Genau diese Erfahrungen waren für viele eine Grundmotivation, sich zuvor der Szene zugehörig zu fühlen“, sagt Neuburg. Die Hinwendung zur djihadistischen Szene sei oft „eine Revolte gegen die Marginalisierung“ gewesen.

Die Arbeit der Sozialarbeiter*innen ging und geht dann aber weit über die gemeinsame Produktion der Videos hinaus. Mit Workshops und Materialien für die pädagogische Praxis wird die Online-Arbeit auch offline fortgesetzt. Mit den Materialien können auch andere arbeiten. Und auch der Verein geht offline.

„Wir besuchen auch Einrichtungen der offenen Jugendarbeit“, erzählt Karakuyu. Die Workshops und Videos kämen dort extrem gut an. „Viele Jugendliche finden sich in diesen Videos wieder. Denn unser Sprecher belehrt nicht. Er ist selbst betroffen, er war in dieser Welt.“

Jamals Weg geht weiter

Auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, auf deren Erfahrungen die Videos beruhen, arbeiten weiter mit. „Da hat ein enormer Prozess der Identifikation und Aneignung eingesetzt, in sozialen Netzwerken etwa beteiligen sie sich teils intensiv an den Debatten unter den Jamal-Videos“, erzählt Neuburg.

Die Geschichte von Jamal geht inzwischen weiter: Anfang April wurde der Trailer zu einer Animationsserie online gestellt, zum Beginn des Ramadan ein Video zu Fasten und Corona. Und mit „NISA x Jana“ ist eine neues Projekt entstanden, bei dem speziell die Probleme von Mädchen und jungen Frauen in den Mittelpunkt rücken (bald könnt ihr auf FM4 mehr darüber lesen).

„Für mich ist Jugendarbeit auch politische Bildung“, sagt Neuburg. „Antifaschistische und antirassistische Arbeit begleitet mich mein Leben lang, ich habe hier eine starke persönliche Motivation.“ Er wünsche sich, dass aus den Erfahrungen im Jamal-Projekt auch ähnliche Projekte im Bereich Rechtsextremismus entstünden. Karakuyu ist selbst Muslimin: „Mir ist es enorm wichtig, den Jugendlichen zu zeigen, dass es auch alternative Sichtweisen geben kann.“

Sechs junge Männer unter einer Brücke mit Graffiti

Bild: Verein Turn

Das Schlusswort zu diesem Artikel soll Jamal gehören. Am Schluss des „Takfir“-Videos sagt er: „Ich suche mir meine Freunde nicht nach Religion, Hautfarbe oder Staatsangehörigkeit aus, sondern danach, ob sie gute Menschen sind oder nicht.“

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